Darf ich darüber nachdenken?

Haben Sie schon die Erfahrung gemacht, dass Sie komisch angeschaut wurden, wenn Sie über einen Sachverhalt erst nachdenken wollen, insbesondere dann, wenn die Haltung doch klar sein sollte? Gerade bei Themen wie dem Nahostkonflikt, dem Ukrainekrieg, der Flüchtlingsthematik, Wokeness/Gender oder was uns in der Coronazeit widerfahren ist? Ist denn nicht gerade dieses Nachdenken, das Einnehmen verschiedener Blickrichtungen wichtig, gerade auch Perspektiven, die nicht so populär sind, damit ich den Sachverhalt differenzierter nachvollziehen kann?

Und was ist, wenn ich daraufhin sogar meine eigene Meinung laut aussprechen und nicht eine bereits vorgekaute Meinung übernehmen will? Muss ich dann fürchten, dass mich die Cancel Culture trifft (https://de.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture)? Dazu gehören Kampfbegriffe, wie Leugner…. Putin- und Co-Versteher, Querdenker, die Rassismuskeule, Rechts-Linksextrem Ecke, Verschwörungstheoretiker, kulturelle Aneignung usw.

Unsere Meinungsfreiheit ist rechtlich weitgehend gesichert. Doch es wäre naiv zu glauben, dass es keine sozialen Konsequenzen geben könnte, wenn Ihr Dafürhalten auf ein Tabu oder eine unerwünschte Meinung trifft. Das passiert schon in der Familie, in der Schule, im Beruf oder im Verein und natürlich in den (sozialen) Medien. In der Politik ist es noch kritischer, ein falscher Satz kann das Ende der Karriere bedeuten. Auch die Parteien untereinander tun sich oft schwer, eine konstruktive Sachdebatte zu führen und blockieren sich damit gegenseitig. Natürlich ist Ausgrenzung und Abwertung in jeglicher Form schmerzlich und beeinflusst die Art und Weise, wie wir unsere Meinung vertreten. Doch Ausgrenzung und Abwertung machen die Menschen, „die anderen“, nicht „einsichtiger“, noch werden sie dadurch zum Schweigen gebracht. Im Gegenteil, häufig wird die angegriffene Haltung dadurch noch gefestigt, bis hin, dass sie noch mehr Unterstützer findet.

Was geht in den Menschen vor, die Sachdebatten stören wollen?

Vielleicht steckt dahinter die Angst, die Kontrolle zu verlieren, weil sonst eine bestimmte Sichtweise immer mehr Anhänger finden könnte. Oder es können Themen ans Licht kommen, die lieber im Dunkeln bleiben sollen, vorwiegend dort, wo mit zweierlei Maß gemessen wird (Doppelmoral). Manchmal scheint etwas existenziell wichtig zu sein, sodass keine Zeit bleibt, auf die Meinung anderer Rücksicht zu nehmen (z. B. Klimakrise), oder es entsteht der Glaube, anderen moralisch überlegen zu sein und das Recht zu haben, diese maßregeln zu dürfen. Vielleicht gehören sie auch zu einer dieser „Mehrheiten“, oder haben ein politisches Amt inne, welches sie ins „Recht“ setzt, oder sie wissen es einfach besser und es nervt einfach, sich „unqualifizierte Meinungen anhören zu müssen.

Meinungsvielfalt als Stärke

Eine der wesentlichen Stärken unserer Demokratie ist die Vielfalt der Meinungen und die Fähigkeit, unterschiedliche Potenziale und Perspektiven zu integrieren. Um jedoch die komplexen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich zu meistern, ist es unerlässlich, unsere Denkweise zu erweitern und uns den Diskussionen sowie Debatten vorurteilsfrei zu stellen. Innovative Lösungen und Fortschritte sind oft zum Scheitern verurteilt, wenn wir bereits im Vorfeld durch soziale und/oder politische Meinungseinschränkungen und Tabus unsere Perspektiven begrenzen. Diese Erkenntnis ist sowohl für Unternehmen als auch in der politischen Landschaft, von entscheidender Bedeutung.

 

Ein Wettkampf der Geisteshaltungen

Guido Westerwelle formulierte einst, dass Demokratie nicht nur ein Wettbewerb zwischen Parteien, sondern vor allem ein Wettbewerb der dahinterstehenden Geisteshaltungen ist. In diesem Sinne möchte ich eine Metapher ins Spiel bringen: Wir alle haben unsere eigene innere Landkarte der Welt, geprägt durch unsere individuellen Erfahrungen und Überzeugungen. Probleme entstehen, wenn wir unsere Landkarte für die einzig Wahre halten, was zu Starrheit und Intoleranz führen kann. Das Bewusstsein, dass wir alle durch unsere persönlichen, kulturellen und sozialen Linsen blicken, fördert eine flexible Denkweise. Es ermöglicht neue Informationen annehmen zu können und wenn es sinnvoll erscheint sich anzupassen.

In einer reifen Demokratie gibt es keine absolut richtige oder falsche Landkarte. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns auf drei grundlegende Prinzipien einigen:

  1. Wir sollten Toleranz üben und die Vielfalt der Perspektiven wertschätzen.
  2. Wir sollten verstehen, dass jede Perspektive das Gesamtbild bereichert und uns dabei hilft, optimale Wege zur Bewältigung der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu finden.
  3. Wir sollten anerkennen, dass bestimmte Landkarten uns auf spezifischen Gebieten effizienter zum Ziel führen können als andere. Das bedeutet, sich positionieren zu können und sich nicht in endlose Debatten zu verlieren.

Für eine menschlichere und produktivere Demokratie

  • Transparteilichkeit: Wir sollten über traditionelle Parteigrenzen hinaus nach Lösungen suchen, die über die üblichen politischen Lager hinausgehen. Es geht darum, Gemeinsamkeiten zu finden und konstruktiv mit Unterschieden umzugehen.
  • Pragmatismus und Flexibilität: Wir sollten, anstatt uns starren Ideologien zu verschreiben, bevorzugt einen pragmatischen Ansatz wählen, der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erlaubt. Wir müssen immer handlungsfähig bleiben, uns positionieren und von der langfristigen Zukunft herdenken (nicht nur in Legislaturperioden).
  • Persönliche und kollektive Verantwortung: Politiker benötigen eine hohe persönliche Integrität und eine Haltung der Verantwortungsübernahme in der politischen Führung. Aber auch jeder von uns benötigt ein Verantwortungsbewusstsein für das Wohl der Gesellschaft. Was explizit nicht bedeutet, andere erziehen oder belehren zu wollen, sondern bei sich selbst anzufangen (innere Entwicklung).
  • Kulturen: Es wäre endlich angebracht, die intersubjektiven kulturellen Unterschiede sowohl innerhalb unserer Gesellschaft als auch der Welt wertzuschätzen und die Unterschiede der jeweiligen Weltanschauungen zu berücksichtigen bei unseren politischen Entscheidungen.
  • Globales und vernetztes Denken: Wir brauchen ein globales Denken, welches unsere politischen Entscheidungen nicht isoliert betrachtet, sondern die Auswirkungen und Wechselwirkungen auf globaler Ebene kurz- und langfristig analysiert. Es geht darum, zu erkennen, wie lokale Aktionen globale Reaktionen hervorrufen können und umgekehrt.
  • Interdisziplinäre Ansätze: Es ist wesentlich, soziale, wirtschaftliche, ökologische, kulturelle und psychologische Aspekte einzubeziehen, um ein tiefgreifendes Verständnis von Problemen zu erlangen und effektive Strategien zu entwickeln. Dabei sollten wir auch zwischen natürlichen und von Menschen geschaffenen Systemen unterscheiden. Denn die von Menschen geschaffenen Systeme sind unsere eigenen Konstrukte und deshalb veränder- und weiter entwickelbar.

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